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Assistierte Freiheit und Anerkennung von Differenz – die neue UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen

12. März 2009
Von Sigrid Graumann

Von Sigrid Graumann

Gleiche Rechte und Selbstbestimmung sind Schlüsselbegriffe in der aktuellen Behindertenpolitik. Nachdem behinderte Menschen jahrzehntelang in Sonderorten leben, lernen und arbeiten mussten, hat sich mittlerweile die Sichtweise durchgesetzt, dass ihnen das zwar Schutz bieten kann, gleichzeitig aber ihre gesellschaftliche Unsichtbarkeit, Machtlosigkeit und Ausgrenzung bedingt. Behinderten Menschen wird heute zunehmend ein berechtigter Anspruch zugestanden, selbstbestimmt und unabhängig in der Mitte der Gesellschaft zu leben. Das heißt, wir können derzeit einen Paradigmenwechsel von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit und Fürsorge zu einer Politik auf der Grundlage der Freiheit und der Menschenrechte beobachten.

Ein Meilenstein in dieser Entwicklung stellt die neue UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen dar, die im Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, im Mai 2008 international in Kraft trat und im Dezember 2008 schließlich auch von der Bundesrepublik ratifiziert wurde.

Die Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zu einer ganzen Reihe von Veränderungen im Umgang mit behinderten Menschen. Dazu gehören unter anderem eine barrierefrei zugängliche Umwelt, ein umfassender Schutz vor unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung, ein inklusives Bildungssystem, ein garantiertes Wahlrecht in Bezug auf die Wohn- und Lebensform, ein zugänglicher Arbeitsmarkt und eine familienunabhängige soziale Absicherung, die ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben (independent living) bei voller und gleichberechtigter gesellschaftliche Teilhabe (inclusion) für alle behinderten Menschen ermöglicht. Diese menschenrechtlichen Ansprüche sind mit umfangreichen sozialen Leistungsrechten und entsprechenden Solidarpflichten verbunden. Vor diesem Hintergrund wird der Umsetzungsprozess der  Konvention, der gerade erst begonnen hat, sicher ein langer und mühsamer Prozess sein – auch in den reicheren Ländern der Welt.

Das Konzept assistierter Freiheit

Die Initiative, eine eigene Menschenrechtskonvention für behinderte Menschen zu schaffen, war anfangs keineswegs unumstritten. Insbesondere mit Blick auf behinderte Menschen mit starken Beeinträchtigungen wurde und wird befürchtet, das verbriefte Menschenrechtsansprüche vor allem den behinderten Menschen helfen, die ihre Rechte selbst vertreten und verteidigen können, nicht aber denjenigen, die auf ein  hohes Maß an Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Auch in der politisch-philosophischen Diskussion waren in den vergangenen Jahren prominente Stimmen – etwa von Alasdair MacIntyre und Martha Nussbaum – zu hören, die modernen, liberalen Gesellschaftsmodellen vorwerfen, der Lebenssituation behinderter Menschen nicht zu berücksichtigen. Nicht die Freiheit des Menschen, sondern seine unhintergehbare Verletzlichkeit, Bedürftigkeit und Abhängigkeit müsse der Ausgangspunkt für die Frage sein, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen soll.

Die UN-Konvention selbst lässt allerdings keinen Zweifel daran zu, dass die Rechte von wirklich allen behinderten Menschen gleichermaßen geachtet, geschützt und verwirklicht werden sollen. In der Präambel heißt es: „Recognizing the need to promote and protect the rights of all persons with disabilities, including those who require more intensive support.”

Dieser Anspruch der Inklusivität und Universalität des Menschenrechtsschutzes wird in der Konvention konsequent umgesetzt. Dabei will die Konvention keine „Sonderrechte“ für behinderte Menschen schaffen, sondern lediglich die Rechte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der beiden Zivilpakte für die besonderen Gefährdungen, denen behinderte Menschen ausgesetzt sind, präzisieren und konkretisieren. Das Ergebnis dieser Präzisierung und Konkretisierung ist ein Konzept assistierter Freiheit.

Das Recht auf gleiche Anerkennung als rechtsfähige Person, das üblicherweise zu den bürgerlichen Freiheitsrechten gerechnet wird, umfasst nicht nur den Schutz vor Willkür und Ungleichbehandlung vor dem Gesetz, sondern auch die Institutionalisierung der notwendigen Unterstützung und Assistenz, die behinderte Menschen brauchen, um ihre Rechte auch wirklich ausüben zu können. Einbezogen sind dabei auch alle, die nach deutschem Recht bisher als nicht geschäftsfähig gelten. Das Recht auf Mobilität umfasst nicht nur den Anspruch, Eingriffe in die Bewegungsfreiheit zu unterlassen, sondern auch die Verpflichtung zur Beseitigung von allen Barrieren, die den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umgebung, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation behindern.

Die konkreten Forderungen in Bezug auf die Rechte auf Wohnung, Arbeit, Gesundheitsversorgung, soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard gehen nicht nur deutlich über das „soziokulturelle Minimum“ im deutschen Sozialrecht hinaus, sondern sind zudem mit dem Verbot paternalistischer Bevormundung, Stigmatisierung und Diskriminierung verbunden. Das heißt, Nichtinterventionsansprüche und soziale Leistungsansprüche werden sowohl in den bürgerlichen Freiheitsrechten und den politischen Rechte als auch in den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten eng miteinander verknüpft. Damit geht das Konzept assistierter Freiheit nicht von der faktisch freien Person aus, sondern stellt die Bedingungen und Voraussetzungen für die individuell erreichbaren Freiheitsspielräume – mögen diese im Einzelfall auch noch so gering sein – in den Mittelpunkt des Menschenrechtsschutzes.

Behinderung – nicht Defizit sondern Differenz

Der rechtebasierte Ansatz in der Behindertenpolitik ist aber noch aus einem weiteren Grund umstritten. Befürchtet wird auch, dass der Fokus auf gleiche Rechte für behinderte Menschen den Blick auf ihre mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung, auf die Geringschätzung ihrer Differenz, verstellt. Wie es Charles Taylor in seinem berühmten Aufsatz zum Multikulturalismus ausgedrückt hat, kann die Verweigerung gesellschaftlicher Anerkennung durch negative Stereotypen und Bewertungsmuster es den betroffenen Individuen unmöglich machen, Selbstachtung und ein positives Selbstbild zu entwickeln. Ohne Selbstachtung und ein positives Selbstbild aber seien formal gleiche Rechte praktisch wertlos. Ungeachtet der politisch-philosophischen Kontroverse darüber, ob es so etwas wie ein Recht auf gesellschaftliche Wertschätzung überhaupt geben kann, wird die Forderung nach Anerkennung von Differenz in Bezug auf behinderte Menschen in der Konvention aufgenommen.

Das zeigt sich etwa daran, dass sich der Begriff „Diskriminierung“ nicht auf die Vorenthaltung formal gleicher Rechte beschränkt, sondern Diskriminierung durch Vorurteile, Barrieren und fehlende Unterstützung explizit einbezieht. Außerdem floss die Einsicht in die Formulierung der Konvention ein, dass Definitionen von Behinderung meist stigmatisierend sind. Die Konvention verzichtet daher auf eine abschließende Definition und betont, dass sich der Begriff Behinderung ständig weiterentwickelt. Ihr liegt damit das soziale Modell zu Grunde, welches Behinderung auf gesellschaftliche Barrieren und fehlende Unterstützung zurückführt. Es ersetzt das medizinische Modell, das sich wie die deutsche sozialrechtliche Definition auf individuelle Funktionsbeeinträchtigungen stützt.

Als behinderte Menschen im Sinne der Konvention gelten daher alle, die auf Grund von Wechselwirkungen zwischen individuellen Schädigungen und „verschiedenen Barrieren“ an der vollen gesellschaftlichen Teilhabe gehindert werden. Der Defizit-Ansatz im Verständnis von Behinderung wird damit konsequent durch einen Differenz-Ansatz ersetzt: Während die individuelle Besonderheit jedes Menschen Wertschätzung verdient, werden die sozialen Bedingungen als das eigentliche Problem angesehen.

Bemerkenswert ist außerdem der gesellschaftliche Bewusstseinswandel (awareness raising), den die Konvention fordert: Die Unterzeichnerstaaten werden zur Förderung des Bewusstseins für die Rechte und die Würde behinderter Menschen und für ihre soziale Wertschätzung im Sinne der Konvention verpflichtet. Außerdem sehen Einzelregelungen Schulungen zur Sensibilisierung von im Bildungs-, Justiz- oder Gesundheitswesen tätigen Personen vor.

Auf dem Weg zu einem erweiterten Menschenrechtsdenken

Die Behindertenrechtskonvention markiert damit nicht nur einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik. Sie steht auch für eine bemerkenswerte Weiterentwicklung des Schutzkonzepts der Menschenrechte. Einige Fragen, die auch in anderen politischen Debatten seit langem höchst kontrovers diskutiert werden, wie beispielsweise die Frage nach dem Verhältnis von Nichtinterventionsansprüchen und sozialen Leistungsansprüchen, die im Namen der Menschenrechte geltend gemacht werden, oder die Frage, ob die Vorstellung universeller Menschenrechte nicht zwangsläufig mit der Geringschätzung von Differenz einher gehe, werden in der Behindertenrechtskonvention praktisch beantwortet.

Die menschenrechtlichen Konzepte assistierter Freiheit und Anerkennung von Differenz könnten eine gesellschaftliche Bedeutung erhalten, die weit die für behinderte Menschen hinausgeht. Es bleibt daher zu hoffen, dass die Veränderung des Menschenrechtsdenkens in der Konvention kein singuläres Phänomen bleibt, sondern auch für die Durchsetzung der Rechte von Kindern, Frauen, Migrantinnen und Migranten sowie anderen benachteiligten Gruppen fruchtbar gemacht wird.

Literaturhinweise:

  • Aichele, Valentin (2008): Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihr Fakultativprotokoll. Ein Beitrag zur Ratifikationsdebatte. Deutsches Institut für Menschenrechte, Policy Paper Nr. 9, August 2008, Berlin.
  • Bielefeldt, Heiner (2006): Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenkonvention. Deutsches Institut für Menschenrechte, Essay No. 5, Bad Honnef, Berlin.
  • Degener, Theresia (2006): Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen: Vom Entstehen einer neuen Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Vereinte Nationen 3, S. 104-110.
  • MacIntyre, Alasdair (1999): Dependent Rational Animals: Why Human Beings Need the Virtues. Open Court, Chicago.
  • Nussbaum, Martha (2006): Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership. Harvard University Press, Cambridge/London.
  • OHCHR (Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights) (2002): Human Rights and Disability. The Current Use and Future Potential of United Nations Human Rights Instruments in the Context of Disability. Unter: www.ohchr.org/Documents/Publications/HRDisabilityen.pdf, gesehen am 17.03.08
  • Schmahl, Stefanie (2007): Menschen mit Behinderungen im Spiegel des internationalen Menschenrechtsschutzes. Archiv des Völkerrechts 45, S. 517-540.
  • Taylor, Charles (1992): The Politics of Recognition. Taylor, Charles/Gutmann, Amy (Hg.): Multiculturalism and „The Politics of Recognition“. Princeton University Press, Princeton, S. 25-74.
  • United Nations (2006): Convention on the Rights of Persons with Disabilities. Unter: www.un.org/esa/socdev/enable/rights/convtexte.htm#convtext, gesehen am 17.03.08